Flügel

Flügel
Die Flügel über jemanden breiten, jemanden mit den Flügeln bedecken: ihn in seine Obhut nehmen; vgl. französisch ›prendre quelqu'un sous son aile‹ (wörtlich: jemanden unter seinen Flügel nehmen), sowie ›sous l'aile de ...‹; (wörtlich: unter dem Flügel von ...): unter dem Schutz von ...
   Die Wendung ist schon aus der Bibel bekannt. Im A.T. tragen die Cherubim und Seraphim Flügel, denen im bildlichen wie im übertragenen Sinne eine beschirmende und schützende Bedeutung beigemessen wird: »... und die Cherubim sollen ihre Flügel ausbreiten oben überher, daß sie mit ihren Flügeln den Gnadenstuhl bedecken ...« (Ex 25,20); »... und die Cherubim breiteten ihre Flügel aus von oben her und deckten damit den Gnadenstuhl ...« (Ex 37, 9); »... und er sprach, wer bist du? Sie antwortete, ich bin Ruth, deine Magd, breite deinen Flügel über deine Magd« (Rut 39). Auch in den Psalmen begegnet der Begriff ›Flügel‹ als Symbol der Geborgenheit: »Beschirme mich unter dem Schatten deiner Flügel« (Ps 17,8); »Unter dem Schatten deiner Flügel hab ich Zuflucht« (Ps 57,2).
   Darüber hinaus sind auch die Flügel des Vogels (insbesondere des Adlers) im A.T. des öfteren erwähnt: »Wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln wird der Herr der Heere Jerusalem schützen, es beschirmen ...« (Jes 31,5). Im N.T. findet sich dagegen vor allem das Bild der Henne, die ihre Küchlein mit den Flügeln deckt, sie unter ihre Flügel nimmt: »Wie oft wollete ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt ...« (Mt 23,37).
   An die beschützenden Flügel einer Glucke ist auch gedacht in Paul Gerhardts (1607-1676) Versen:
   Breit aus die Flügel beide,
   O Jesu, meine Freude,
   und nimm dein Küchlein ein!
Ähnlich vom selben Autor:
   Wie ein Adler sein Gefieder
   über seine Jungen streckt,
   also hat auch hin und wieder mich
   des Höchsten Arm bedeckt.
Vielfach leiten sich die Wendungen – wie im letzten Vers – von den großen Vögeln (der Luft) her, wenn es z.B. heißt: ›Auf den Flügeln der Phantasie‹ oder (in literarischen Zitaten): »Auf den Flügeln des Gesanges« (H. Heine, aus der Gedichtsammlung ›Lyrisches Intermezzo‹), »auf des Gesanges raschem Flügel« (Goethe, ›Was wir bringen‹ [1802], 20. Auftritt). Und auch Schiller verwendet das Bild mit den Worten: »auf den Flügeln eures Kriegsgesangs« (›Jungfrau v. Orleans‹ [1801], 11). In diesen Zusammenhang gehört wohl auch der Pegasos der griechischen Sage, das geflügelte Pferd, das zum Sinnbild der Dichtkunst erhoben wurde.
   Mit den Flügeln war demnach nicht nur die Vorstellung von Behütetsein verbunden, sondern vor allem auch die der leichten Fortbewegung, der Sehnsucht nach Ferne, der Wunsch nach schnellem Weitergetragenwerden, wie es auch zum Ausdruck kommt in der Wendung Jemandem sind Flügel gewachsen: er ist über sich hinausgewachsen, er hat ungeahnte seel. Kräfte entwickelt, oder, wie es formuliert ist in dem bekannten Wanderlied: »Ich wollt' mir wüchsen Flügel« (Gedichtsammlung von Scheffel mit dem Titel ›Gaudeamus‹). Flügel haben: flink wie ein Vogel sein. ›Du hast wohl Flügel?‹ wird der rasch Herbeieilende gefragt; vgl. auch französisch ›Il semble avoir des ailes‹, er läuft sehr schnell.
   Anklänge an dieses schwebende Weitergetragenwerden – ›Wie auf Engelsflügeln‹ – finden sich in der Wendung ›Durch etwas beflügelt werden‹ oder in den ›Geflügelten Worten‹, die Büchmann als Titel seiner berühmten Zitatensammlung wählte.
   Um eines dieser geflügelten Worte handelt es sich auch bei einem (bei jungen Mädchen teilweise noch bekannten) Vers aus dem Gedicht ›Lina‹ eines unbekannten Verfassers: »Als ich noch im Flügelkleide einst zur Mädchenschule ging ...«. Das Flügelkleid war ein Gewand mit langen hängenden Ärmeln. Es war im 17. Jahrhundert in Mode als leichtes Jungmädchenkleid und ist daher auch in der Literatur als Metapher für junge Mädchen häufig belegt: »... kaum aus dem Flügelkleid, spielt sie schon stolz die Dame« (J. Fr. W. Zacharia, ›Poetische Schriften‹ [1763ff.]). Auch Wieland gebraucht diese Worte, um damit die Jungmädchenzeit zu verdeutlichen: »Ihr hüpftet noch im ersten Flügelkleide«, ferner auch C.B.E. Naubert in: ›Volksmärchen der Deutschen‹ (1840): »daß Gerhard eine Tochter habe, die dem Flügelkleide ziemlich entwachsen sein müsse«.
   Das Wort steht darüber hinaus auch für Leichtigkeit, das Erhebende, wie es Schiller der sterbenden Johanna in den Mund legt (›Die Jungfrau v. Orleans‹, V, 14):
   Wie wird mir – Leichte Wolken heben mich –
   Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide.
   Und nicht zuletzt steht es für Kindheit und Jugend allgemein, so bei A. Müllner (›Die Schuld‹ [1816], 144):
   Im Flügelkleide
   ward ich seines Sohnes Braut.
   Drei Jahr drauf ward ich getraut.
   Kinder waren wir noch beide,
   Kinder an Gemüt und Geist.
Auf Unbekümmertheit und ahnungslose Sorglosigkeit spielt die Redensart an: sich die Flügel verbrennen: Schaden erleiden; vgl. französisch ›se brûler les ailes‹; abgeleitet vom Bild der Fliegen und Motten, die sich zu nahe ans Kerzenlicht wagen und dabei verbrennen. Entsprechend wird die Redensart vielfach auch gebraucht für junge Leute, die sich leichtsinnig einer Gefahr aussetzen.
   Zu schwäbisch ›Der fliegt höher, als ihm d'Flügel gwachse sind‹ gibt es eine sinnverwandte Redensart in älterer Sprache: die Flügel über das Nest hinaus strecken, was 1561 von J. Maaler (›Die teutsch Sprach‹ 139b) so erklärt wird: »sich prachtlicher stellen dann vnser Haab vnnd Gut vermöge«.
   Sonst dient Flügel, weil der Mensch oft mit einem Vogel verglichen wird, zu ähnlichen Redensarten wie Fittich: einen beim Flügel kriegen; einem die Flügel beschneiden (oder stutzen): ihn in seiner Freiheit beschränken, schon in der ›Zimmerischen Chronik‹ (IV, 51) und bei Abraham a Sancta Clara: »einem die Flügel stutzen«; vgl. französisch ›rogner les ailes de quelqu'un‹: jemanden in seiner Macht beschränken, und ›couper les ailes de quelqu'un‹ (wörtlich: jemandem die Flügel abschneiden): ihn seiner Handlungsfreiheit berauben.
   Die Flügel hängen lassen: den Mut sinken lassen; mundartlich besonders in dem Vergleich verbreitet: Er hängt die Flügel wie die Gänse vor der Ernte; schwäbisch ›Die läßt d'Flügel net schlecht hange‹. Die Wendung begegnet schon in einem Volkslied des 19. Jahrhunderts:
   Ja, sie hengen schon die Flügel,
   aller Orten krank und matt.
   (Fr. L.v. Soltau: ›Einhundert deutsche historische Volkslieder‹ [1836]).
Sich die Flügel verbrennen. Detail aus ›Fabeln‹, Münchener Bilderbogen, Nr. 603, aus: S. und K., S. 64.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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