Türke

Türke
Einen Türken bauen: eine oft geprobte Übung als spontane Originalleistung vorführen, etwas vorspiegeln, vortäuschen, einen rettenden Einfall haben, in der Not aus dem Stegreif etwas erfinden, etwas so stellen, als ob es echt wäre, etwas dem Original gleichtun, um Eindruck zu machen, auch: Ehrenbezeigungen vollführen.
   Die Redensart ist heute besonders in Kreisen des Rundfunks, des Films und der Presse verbreitet mit der Sonderbedeutung: einen gestellten Partner, ein Double statt des echten im Interview befragen, statt echter Dokumentation als Notlösung gestellte Filmszenen bringen.
   Ursprünglich stammt die Wendung wohl aus dem militärischen Bereich. In der Soldatensprache ist ›Türke‹ ein Fachausdruck für eine eingedrillte Gefechtsübung gegen einen angenommenen Feind und für das parademäßige Vorexerzieren bei militärischen Besichtigungen, aber auch für die taktische Erfindungsgabe der Kommandeure bei solchen Übungen gewesen. In der Form Einen Türken stellen im Sinne von ›bei Besichtigungen jemandem etwas vormachen‹ ist der Ausdruck in die heutige Umgangssprache gedrungen. Krüger-Lorenzen meint, daß die Redensart auf einem Vorfall bei der kaiserlichen Marine beruht: »Als 1895 Kaiser Wilhelm II. den nach ihm benannten Kaiser-Wilhelm-Kanal (heute Nord-Ostsee- Kanal), eine der wichtigsten Weltseeverkehrsstraßen, einweihte, trafen sich im Kieler Hafen Kriegsschiffe aller seefahrenden Nationen. Der Kaiser hatte aus diesem Anlaß zu einem Galadiner auf dem Flottenflaggschiff SMS ›Deutschland‹ eingeladen. Jedes Boot, das den Vertreter eines Staates an Bord der ›Deutschland‹ brachte, führte die entsprechende Nationalflagge. Sobald ein hoher Würdenträger seinen Fuß auf das oberste Fallreeppodest setzte, präsentierte die Sicherheitswache, und die Marinekapelle spielte die Nationalhymne des betreffenden Landes. Als plötzlich ein Boot mit der roten türkischen Halbmondflagge anrauschte, stellte der Kapellmeister bestürzt fest, daß weder Noten der türkischen Nationalhymne vorhanden waren, noch einer seiner Musiker diese kannte. Als dann die türkischen Seeoffiziere mit Fez und Halsorden das Fallreep heraufstiegen, intonierte die Marinekapelle kurz entschlossen: ›Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin‹. So wurde der erste Türke gebaut«.
   Vermutlich ist das Verb ›bauen‹ erst als neueres Modewort zu dem Fachausdruck ›Türke‹ getreten, vgl. Wendungen wie ›Das Abitur bauen‹, ›Einen Unfall bauen‹ usw.
   Möglicherweise bezieht sich die Redensart auf einen sogenannten Schachspielautomaten, bei dem eine Türkenpuppe die Züge des Spielers erwiderte, während die Partie in Wirklichkeit von einem unsichtbaren Spieler gelenkt wurde. W. Benjamin gebraucht dieses Bild in seinen ›Geschichtsphilosophischen Thesen‹: »Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzug erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor einem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man »historischen Materialismus« nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen«.
   Eine ›Vermutung‹ (S. 164), wie es zu dieser Redensart gekommen sein könnte, äußerte 1977 W. Seibicke: »Vielleicht haben der Türke und das Türkenstellen. eher etwas mit der Türkengill (=Türkengilde), dem Türkentrecken, Türkenreiten und Türkenführen zu tun, wovon in O. Mensings Schleswig-Holsteinischem Wörterbuch V (1935, Spalte 206f.) die Rede ist«. Da wird von einer Art Karneval berichtet, der in Kappeln bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts gefeiert wurde. Er sollte an die glückliche Rückkehr des Detlevs von Ruhmor aus türkischer Gefangenschaft erinnern, aus welcher ihn Kappelner Schiffer befreit hatten (Ende 17. Jahrhundert). Bei dem Umzug durch die Stadt wurde ein hölzerner, mannshoher ›Türke‹ mitgeführt.
   Ein möglicher Zusammenhang besteht mit dem sogenannten ›Türkenkopfstechen‹ und dem Türken als Zielfigur bei turnierartigen Spielen. Dabei kam es darauf an, im vollen Anritt mit einem Degen nach einem Kopf zu stechen. Der Adel bestellte bei Bildhauern und Malern geschnitzte und gefaßte Köpfe als Zielfiguren für das Bravourreiten.
   Die Redensart existiert auch im Französischen mit derselben Bedeutung: ›faire un Turc.‹
   Etwas ist getürkt: etwas ist vorgetäuscht, eine Sache stimmt nicht.
• Deutsches Wörterbuch XI, I, II, Spalte 1853f.; P. HORN: Die deutsche Soldatensprache (Gießen 1899), S. 76; TH. IMME: Sodatensprache (1917), S. 79; W. BENJAMIN: Geschichte-phil. Thesen 1, in: Schriften, herausgegeben von Th. W. Adorno und G. Adorno, Bd. I (Frankfurt/M.
1955), S. 494; L. KRETZENBACHER: Ringreiten, Rolandsspiel und Kufenstechen (Klagenfurt 1966); KRÜGER-LORENZEN: Kuhhaut, S. 246f.; KÜPPER II, S. 290; H. DITTRICH: Redensarten auf der Goldwaage (Bonn 1970), S. 252; S. ÖZYURT: Die Türkenlieder und das Türkenbild in der deutschen Volksüberlieferung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Diss. Freiburg 1969), in: Motive. Freiburger folkloristische Forschungen Bd. IV (München 1972); W. SEIBICKE: Einen Türken bauen, in: Der Sprachdienst 21 (1977), S. 163-165; K. BERISCH: Einen Türken bauen, in: Der Sprachdienst 22 (1978), S. 31; H. KÜPPER: Einen Türken bauen, in: Der Sprachdienst 22 (1978), S. 16; C. MONßEN: Einen Türken bauen, in: Der Sprachdienst 22 (1978), S. 47; L. SCHMIDT: Einige Türkenmotive in der Volkskunst (Rosenheim 1979), S. 90-93. H. WALTHER: Einen (Kammer-) Türken (dar-)stellen, in: Der Sprachdienst 23 (1979), S. 54-55.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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