stehen

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»Hier stehe ich! Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen«. Ich stehe zu dem, was ich gesagt und geschrieben habe, ich verharre trotz aller denkbaren Nachteile und persönlicher Gefahr auf meiner Überzeugung. Luther soll nach der gewöhnlichen Überlieferung am 18. April 1521 vor dem Reichstag in Worms mit diesen ablehnenden und abschließenden Worten die Frage beantwortet haben, ob er widerrufen wolle. Diese volkstümliche Fassung seines Ausrufs ist zuerst in der Wittenberger Ausgabe von Luthers Werken erschienen und immer wieder so übernommen worden. Bei einem Vergleich älterer Quellen ergibt sich jedoch, daß Luther nur die im Sprachgebrauch seiner Zeit üblichen Worte: »Gott helf mir, Amen!« gesprochen hat. Das Zitat ist jedoch inzwischen so allgemein bekannt geworden, daß es in verkürzter Form als Hier stehe ich, ich kann nicht anders! redensartlich gebraucht wird (Büchmann).
   Da steh ich nun!: Ich kann nicht weiter, ich weiß nicht, womit ich mein Ziel erreichen, wie ich im Leben, im Beruf vorankommen soll. Der resignierende Ausruf wird dann gebraucht, wenn sich jemand seines Stillstandes plötzlich bewußt wird und völlig rat- und hilflos ist, wie es in Zukunft weitergehen soll. Die Wendung ist die Kurzform eines Goethezitates.
Faust ruft verzweiflungsvoll in der Nacht in seinem Studierzimmer aus:
   Da steh' ich nun, ich armer Tor!
   Und bin so klug als wie zuvor.
Allein stehen: ohne Hilfe und Anteilnahme sein, keine Angehörigen mehr besitzen, selbst mit seinen Nöten und Schwierigkeiten fertig werden müssen.
   Alle für einen stehen: füreinander eintreten, sich gegenseitig Beistand leisten, zusammenhalten, wie ein Mann handeln, um etwas Negatives zu verhindern. Schiller hat diese Wendung ebenfalls litarisch in ›Wallensteins Lager‹ (11. Auftritt) verwendet:
   Nein, das darf nimmermehr geschehn!
   Kommt, laßt uns alle für einen stehn!
Zu jemandem stehen: ihm Vertrauen schenken, recht geben, ihm in Not und Gefahr helfen und ihn nicht enttäuschen, nicht wie andere verlassen.
   Ähnlich Für jemanden (etwas) einstehen: die Verantwortung, Bürgschaft für einen anderen übernehmen, von seinen ehrlichen Absichten überzeugt sein, für etwas haften.
   Zu etwas stehen, meistens: Zu seinem Wort stehen: sich zu etwas bekennen, sein gegebenes Versprechen halten, sich von seinem Entschluß oder Urteil nicht abbringen lassen.
   Von Oberdeutschland aus haben sich jüngere Redensarten von ähnlicher Bedeutung verbreitet: Auf jemanden stehen: ihn schätzen, es gut mit ihm meinen, es auf eine Person besonders abgesehen haben, sie lieben und treu zu ihr halten. Die Wendung erhält oft noch den scherzhaften Zusatz: wie auf einem Teppich.
   Auf etwas stehen: dafür schwärmen, etwas bevorzugen, zum Beispiel eine Farbe. Diese Redensart ist seit 1920 in Deutschland und Österreich bekannt. Sie ist besonders bei Jugendlichen der 80er Jahre beliebt geworden.
   Auf des Messers Schneide stehen: äußerst gefährlich sein, kurz vor der Entscheidung sein, das heißt eigentlich sich noch im Gleichgewicht befinden, das aber im nächsten Augenblick gestört werden kann, wenn die Schärfe der Schneide wirksam wird und etwas zertrennt, zerstört. Diese Wendung stammt bereits aus der Antike, denn in Homers ›Ilias‹ (X, 173) heißt es schon: ›epi xyroy istatai akmhs‹ (= Es steht auf des Messers Schneide). Gleiche Bedeutung besitzt die Redensart Auf Spitz und Knopf stehen.
   Zwischen Bock und Hund stehen: in Bedrängnis sein, eigentlich von der einen Seite gestoßen und von der anderen gebissen werden und keinen Ausweg sehen.
   Dagegen: Sich gut stehen: vermögend sein, in gesicherten Verhältnissen leben.
   Sich gut mit jemandem stehen: mit jemandem im Einverständnis sein, mit Vorgesetzten oder Kollegen gut auskommen, bei jemandem gern gesehen, beliebt sein.
   Sich selbst im Licht stehen: sich selbst schaden, Vorteile nicht wahrnehmen.
   Ganz bei einem selbst stehen: sich die Entscheidung vorbehalten, vgl. lateinisch ›In tuo loco et fano est situm‹.
   Sich etwas erstehen müssen: an einer langen Schlange für etwas anstehen müssen, etwas kaufen müssen.
   Etwas teuer erstehen: viel dafür bezahlen (opfern) müssen.
   Wer steht, sehe zu, daß er nicht falle!: wer meint, einen festen Stand, eine gesicherte Position zu besitzen, sollte sich vor Versuchungen und Unglück hüten. Die Wendung, die vor Schuld, Sünde und Verdammnis warnt und zur Vorsicht und Wachsamkeit mahnt, ist der Bibel entlehnt. 1 Kor 10, 12 heißt es: »Wer sich läßt dünken, er stehe, mag wohl zusehen, daß er nicht falle«.
   Auch Goethe gebraucht diese Wendung, jedoch in allgemeinerer Bedeutung, in seiner ›Beherzigung‹:
   Sehe jeder, wo er bleibe,
   Und wer steht, daß er nicht falle.
Vergleiche auch niederländisch ›Die staat, zie toe dat hij niet valle‹.
   Etwas steht und fällt damit (mit jemandem): der Erfolg hängt von einem wichtigen Umstand ab, eine Person ist unentbehrlich bei einem Vorhaben, einer Veranstaltung.
   Alles stehen- und liegenlassen: alles aufgeben und zurücklassen, fliehen müssen, aber auch: dringend abberufen werden, seine Beschäftigung unterbrechen und Unordnung hinterlassen.
   Zahlreich sind die redensartlichen Vergleiche, die treffend charakterisieren, wie etwas oder jemand steht und wie einem etwas steht, zum Beispiel Stehen wie armer Leute Korn: schlecht, dürftig sein. Die Redensart bezieht sich ursprünglich auf den meist unergiebigen, schlechten Ackerboden der Armen, wird nun aber in übertragener Bedeutung zur allgemeinen Kennzeichnung eines dürftigen Aussehens, eines dünnen Haar- oder Bartwuchses verwendet.
   Stehen wie ein Klotz: steif, unbeweglich sein, nicht von der Stelle weichen, ungeschickt im Wege sein. Die Redensart hat bereits Sebastian Franck in seiner ›Sprichwörtersammlung‹ (II, 51a) verzeichnet: »Du stehst wie ein Klotz«. Ähnlich: Stehen wie ein Pfahl: fest, unverrückbar, vgl. holsteinisch ›He steit as en Pickpaal‹, wie ein eingerammter Pfahl, an den zur Beleuchtung Pechkränze gehangen wurden, auch niederländisch ›Hij staat als een' paal und 'pal staan‹; französisch ›rester là comme un pieu‹.
   Stehen wie eine Mauer: unbezwingbar, allem Ansturm trotzend. Aventin gebraucht in seiner Chronik (CCVIIIa) bereits diesen Vergleich: »Stunden wie ein Mauwer«.
   Stehen wie angewurzelt: völlig reglos dastehen, sich nicht bewegen, so als hätte man Wurzeln geschlagen.
   Dagegen: Wie ein Rohr (im Winde) stehen: schwankend, wankelmütig und furchtsam sein. Vergleiche niederländisch ›Het staat zoo vast en onbewegelijk als een riet, dat met alle winden medewait‹; französisch ›être comme un roseau dans le vent‹.
   Wie auf Aalen (Eiern) stehen: keinen festen Halt finden, unsicher sein; vgl. französisch ›marcher (comme) sur des oeufs‹ (wörtlich: (wie) auf Eiern gehen); ähnlich: Wie ein Storch auf einem Bein stehen; Wie ein Storch im Salat.
   Wie auf glühenden Kohlen stehen (sitzen), auch: Wie auf Nadeln stehen: voller Unruhe und Ungeduld sein, in Eile, Bedrängnis auf das Ende der Verzögerung, des Aufenthaltes warten, Kohle.
   Wie Butter an der Sonne stehen: beschämt sein, am liebsten vergehen mögen; auch mundartlich, zum Beispiel in der Altmark: ›Da steit 'r ass Bott'r an d' Sunn‹.
   Wie das Kind beim Dreck stehen: verblüfft, sprachlos sein, vgl. fränkisch ›Ar stett wie's Kind bân Drak‹.
   Wie eine Blume auf dem Mist stehen: am falschen Platze, unpassend sein.
   Die redensartlichen Vergleiche, die die unpassende Kleidung umschreiben, sind besonders in ihren mundartlichen Formen von grotesker und scherzhaft ironischer Übersteigerung: ›Dös stauht d'r a wia d'r Sau a Veigele hinterm Ohr‹, ›wie em Gockeler a Brille‹; ›dos staht der grad win ema Hund a Paar Hose‹ (Ulm); ›wie der Sau ein Sattel (eine Bandhaub) stehen‹ heißt es in der Eifel und in der Steiermark: ›Es sted'n, wiar an Es'l 's Zidrinschlog'n‹. Siebenbürgisch-sächsisch: ›Et stît em wä won et net seng (sein) wêr‹, die Kleider passen ihm so schlecht, als hätte er sie sich nur geborgt. Einem steht es bis obenhin (bis hierher): es ekelt ihn an, er ist einer Sache überdrüssig. Die Redensart, die zuerst 1881 für Leipzig bezeugt und heute allgemein verbreitet ist, wird mit einer Geste zusammen gebraucht. Man zeigt beim Sprechen mit der waagerecht gehaltenen Hand auf den Hals oder unter den Mund, um anzudeuten, daß man übersättigt ist und das Erbrechen nahe bevorsteht. Vergleiche auch die Wendungen ›Etwas hängt einem zum Halse heraus‹ und ›Etwas ist zum Kotzen‹.
   Im Stehen sterben können: übergroße Füße haben.
Die scherzhafte Wendung stammt aus der Soldatensprache und ist seit dem 1. Weltkrieg verbreitet worden.
• R. VAN DER MEULEN: ›Em Staan hebben' en, em anhebben‹, in: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 45 (1926), S. 70-73; ANONYM: Dastehen wie ein Hängholz, in: Sprachdienst 16 (1972), S. 113-114.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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