selbst

selbst
Selbst tun, selbst haben: was man sich selbst zugefügt hat, muß man auch ertragen, für die Folgen seiner Handlungen muß man persönlich einstehen. Diese Wendung war ursprünglich eine Rechtsformel. Es ist bereits in mittelhochdeutscher Zeit als ›Selbe taete, selbe habe‹ bezeugt (vgl. J. Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 34). Auch Sebastian Franck hat die Wendung als ›Selbs thon, selbs gehon‹ in seinen ›Sprichwörtern‹ (43b und 58b) verzeichnet. Vergleiche auch niederländisch ›Self doen, self hebben‹. Das schweizerische Sagwort ›Selber tô, selber g'hâ, seit der Erdwyblimâ‹, das nach Form und Sinn völlig der Rechtsformel entspricht, bezieht sich auf die im Alpenraum mehrfach bezeugte ›Selbtan-Sage‹. Sie ist mit der ›Niemand-Episode‹ der ›Polyphemsage‹ zwar verwandt, doch bilden ihre Varianten in der Volksüberlieferung Mittel- und Nordeuropas eine homerunabhängige Tradition. Der Inhalt der kurzen, lokalisierten und sagenhaften Erzählungen (vgl. Sammlungen von Jecklin, Ranke und Vonbun) ist folgender: Ein Mensch begegnet einem Unhold (Fänggin, Erdweiblein, Unterirdische, Wassergeist) und lügt ihm vor, sein Name sei »Selb« oder »Selbst«. Er quält ihn oder klemmt den Unvorsichtigen in einen gespaltenen Baumstamm ein, weil er sich bei der Arbeit durch sein ständiges Fragen belästigt fühlt. Auf das Geschrei des Dämons eilen dessen Verwandte herbei und fragen, wer ihm Leid zugefügt habe. Als er schreit: »Selb!«, rufen sie: »Selb tô, selb hô!«oder so ähnlich und lassen ihn in seiner qualvollen oder hilflosen Lage allein zuruck, weil sie meinen, jeder müsse die Suppe auslöffeln, die er sich selbst eingebrockt habe.
   Sich selbst helfen: sich nicht auf andere verlassen, vgl. das Sprichwort ›Hilf dir selbst, so hilft dir Gott‹; vgl. französisch ›Aide-toi, le ciel t'aidera‹; und die Wendung Selbst ist der Mann.
   An sich selbst zuletzt (zuerst) denken: überaus große Hilfsbereitschaft zeigen, für sich kaum etwas beanspruchen (seinen Vorteil im Auge haben); vgl. französisch ›penser à soi en dernier‹. Vermutlich hat die literarische Verwendung in Schillers ›Wilhelm Tell‹ (I, 1): »Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt«, zur Verbreitung beigetragen; ähnlich: Seiner selbst vergessen, auch im Sinne von geistesabwesend sein, nicht seiner Persönlichkeit gemäß handeln.
   Zu sich selbst kommen: aus einer Ohnmacht (einem (bösen) Traum) erwachen, auch: nach einem Gefühlsausbruch (nach Zorn oder Verzweiflung) wohlüberlegte Entschlüsse fassen, sich auf sein eigentliches Wesen besinnen; sich seines sinnlosen (unwürdigen) Tuns bewußt werden. In der bildlichen Darstellung ist die Redensart ganz wörtlich genommen; vgl. französisch ›revenir à soi‹.
   Sich selbst besiegen: seine negativen Charaktereigenschaften und hemmungslosen Triebe mit Erfolg bekämpfen, seine Leidenschaften zähmen, dagegen: Sich selbst betrügen: sich gegen besseres Wissen etwas vormachen, die Augen vor der Wirklichkeit verschließen, ähnlich: Sich selbst beschwichtigen und Sich vor sich selbst zu rechtfertigen suchen.
   Dagegen: Sich selbst anklagen (bezichtigen): sich Vorwürfe machen, auch: seinem Gewissen folgen und etwas eingestehen. Mit sich selbst ins Gericht gehen: seine Handlungsweise kritisch prüfen.
   Mit sich selbst reden: laut reden, wenn man allein ist.
   Der Ausdruck ›Selbstredend‹ meint hingegen, daß Sich etwas von selbst versteht.
   Mit sich selbst Zwiesprache halten: seine Beweggründe erforschen, seine wahren Gefühle ergründen.
• S. SINGER: Schweizer Märchen. Anfang eines Kommentars (= Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte 33) (Bern 1903), S. 20ff.; O. HACKMAN: Die Polyphemsage in der Volksüberlieferung (Helsingfors 1904); L. RÖHRICH: Die mittelalterlichen Redaktionen des Polyphem-Märchens (Aarne-Thompson 1137) und ihr Verhältnis zur außerhomerischen Tradition, in: Fabula, 5 (1962), S. 48-71; DERS.: Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiter-
leben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart, Bd. II (Bern – München 1967), S. 213ff. und S. 447ff.; M. LÜTHI: Volksliteratur und Hochliteratur (Bern – München 1970), S. 100-113, Kapitel ›Zum Thema der Selbstbegegnung des Menschen in Volksdichtung und Hochliteratur‹.
Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. P.e.R. Plate XC..
Zu sich selbst kommen. Zeichnung von Moritz von Schwind: ›Krähwinkeliaden‹, 1826: Der Bürgermeister von Krähwinkel kommt zu sich selbst.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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