Placebo singen

Placebo singen
Zweimal erscheint im ›Lübecker Totentanz‹ (V. 445 und 958, ed. Baethke 1876) die Redensart Placebo seggen in der Bedeutung: schmeicheln, nach dem Munde reden. Nach dem ›Breviarium Romanum‹ beginnt das ›Officium defunctorum‹ mit dem 114. Psalm: »Dilexi, quoniam exaudiet Dominus vocem orationis meae«. V. 9 lautet: »Placebo Domino in regione vivorum«. Die Ableitung aus diesem Text wird deutlich in einem satirischen Dialog von 1525: »Euer vicarius und der beichtvater sind schmeichler, streichen den falben hengst, singen euch (spricht mein Kuonz) ein placebo sive dilexi«. Hier sind der Anfang des Psalms und die Antiphona zusammengestellt.
   Die allgemeine Verbreitung der Redensart beweisen die zahlreichen literarischen Belege, z.B.: ›Boek der profecien‹, Lübeck 1488; ›Reineke Voss‹ von 1539; ›Niederdeutsches Reimbüchlein‹ (ed. Seelmann,1885, V.1373): »Und spreckt Placebo, dat itzlick gern hört«, Joh. Römolt in ›Laster der Hoffart‹ 1563 (V.469): »Wiltu hier zu Hoffe sein, So mustu auch thun den willen mein Vnd mir jetzt das Placebo singen«; Barth. Krüger im ›Spiel von den bäurischen Richtern‹ 1580 (V.2562): »Gehn gern zu Hoff die teller lecken, Vnd lassen jn die Hoffsup schmecken. Auch helffen das Placebo singen«; Aegidius Albertinus in ›Lucifers Königreich und seelengejaidt‹ 1616 (S. 18): »welche bissweilen vbel rahten, jhren Herrn das placebo oder wolgefallen singen«; Moscherosch 1652 (S. 83): »Solche Tisch- vnd Seckel-Freund ... loben offtermals der Herren offentliche Laster, nicht daß sie vermeynen es sey lobenswerth, sondern allein daß sie ihnen das placebo singen, Färbelstreichen usw.«
   Auf den Ursprung der Redensart aber werden wir hingewiesen durch einen Satz aus Chaucers ›Canterbury Tales‹ (3,317). In der Erzählung des Pfarrers nämlich werden die Schmeichler beschrieben: »Flaterers ben the develes norices, that norisshen his children with mylk of losingerie ... Flaterers ben the develes chapeleyns, that singen ay Placebo«. Dieser Passus ist direkt oder indirekt entlehnt aus der ›Somme de Vices et de Vertus‹, die im Jahre 1279 der Dominikaner Frere Lorens dem französischen König Philipp III. widmete; es heißt da: »Losenges dist pechies se devise en V fuelles:... quant il chantent touz jors Placebo, c'est a dire ...«
   Die ironische Verwendung jenes Wortes der Totenmesse stammt also offenbar aus der lateinischen Predigtliteratur des Mittelalters; einem Laien mußte sie überhaupt zunächst fernliegen.
   Placebo singen ist das Ursprüngliche, nicht das ›sagen‹ des Lübecker Totentanzes. Joh. Pauli gebraucht die Wendung »Placebo spielen« dafür (›Postilla‹ 44a). Man vergleiche ähnlich gebildete Ausdrücke, wie z.B. das ›Gaudeamus bzw. das Benedicimus singen‹, die aber seltener bezeugt sind, z.B. heißt es bei Römolt in ›Laster der Hoffart‹ 1563 (V.1152):
   Er wird gesellschaft finden gering,
   Mit dem ers Gaudeamus sing.
Und in V.1179:
   sing hin der Narren Gaudeamus,
   So sing ich der Thoren Benedicimus.
›Einem das Placebo singen‹ kennt auch Abraham a Sancta Clara (in ›Judas‹ und ö.), Eiselein (Sprichwörter und Sinnreden, S. 513) teilt ein älteres Sprichwort mit: ›Wer das Placebo domino nicht wol singen kann, der bleibe vom Hof‹. Placebo kommt aus dem Lateinischen und heißt: ›Ich werde gefallen‹.
   In der Medizin werden als Test ›Placebo‹ genannte Präparate verwendet, die in Farbe und Geschmack einem Arzneimittel nachgebildet sind, jedoch keine medizinisch wirksamen Stoffe enthalten.
• JOH. BOLTE: Placebo singen, in: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 10 (1885), S. 19f.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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