Mutter

Mutter
Vorsicht ist die Mutter der Weisheit oder in volkstümlicher Konkretisierung Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste meint, daß Vorsicht wichtiger ist als alles andere und daher noch vor der Weisheit kommt. Das Sprichwort ist wohl in Anlehnung an ähnliche aus dem Lateinischen wie ›repetitio est mater studiorum‹ gebildet. Nach demselben Bautypus (›X ist die Mutter von Y‹) verlaufen die Sprichwörter ›Not ist die Mutter der Künste‹, ›Überfluß ist die Mutter der Langeweile‹, ›Erfahrung ist die Mutter der Wissenschaft‹, ›Die Erde ist die Mutter des Reichtums‹, ›Der Friede ist die Mutter des Reichtums‹, ›Tyrannei ist die Mutter der Ungerechtigkeit‹, ›Schwelgerei ist die Mutter der Habgier‹ (Cicero: ›Luxuria avaritiae mater‹), ›Die Zeit ist die Mutter der Wahrheit‹; oder auch englisch ›Necessity is the mother of invention‹; vgl. auch französisch ›La prudence est la mère de la sagesse‹, sowie nach demselben Bautyp: ›La pauvrete est la mère de tous les vices‹ (wörtlich: Die Armut ist die Mutter aller Laster).
   Einer der ältesten deutschen Belege für diesen Bautypus findet sich 1495 in den ›Proverbia metrica et Vulgariter rytmisata‹ des Joh. Fabri aus Donauwörth: ›Weyssheyt ist aller künst muter‹. Im 16. Jahrhundert geht die Beliebtheit von Neubildungen zurück; erst das 18. Jahrhundert findet wieder neue Variationen, so: ›Ungerechte Regierung ist die Mutter alles Ungehorsams‹.
   Der Ausdruck Mutter Natur geht auf Klopstocks Ode ›Zürchersee‹ (1750) zurück. Die Mutter Erde küssen ist ein Euphemismus für ›zu Boden fallen‹. Der Franzose gebraucht dafür die witzige Redensart ›prendre un billet de parterre‹. Der deutsche Ausdruck erinnert an die Geschichte von den Söhnen des Tarquinius Superbus, denen prophezeit worden war, nach dem Vater werde herrschen, wer zuerst die Mutter küsse; Brutus wußte das Orakel zu erfüllen, indem er absichtlich stolperte, zu Boden schlug und die Erde mit den Lippen berührte.
   Bei Mutter Grün übernachten: im Freien übernachten. Die Redensart ist von Berlin ausgegangen, aber auch in die allgemeine Umgangssprache eingedrungen.
   Der Mutter am Schoß hängen sagt man von einem Kind, das ängstlich nicht von der Mutter weicht, übertragen bezieht man es auch auf Heranwachsende; vgl. französisch ›rester accroché aux jupons de sa mère‹ (wörtlich: Der Mutter am Unterrock hängen).
   Eine andere Mutter hat auch ein liebes, schönes Kind oder Jede Mutter hat ein liebes Kind sagt man im süddeutschen Raum und den Alpen einem abgewiesenen Freier; in übertragener Bedeutung gebraucht man diesen Ausdruck resignierend, wenn man etwas nicht erhalten konnte, das man erstrebte.
   Da ist's Kind vor der Mutter auf die Welt gekommen sagt man über ein vorlautes Kind, das alles besser weiß. Der Ausdruck entspricht sinngemäß der Redensart ›Da ist das Ei klüger als die Henne‹, Ei.
   Wenn du noch eine Mutter hast...: Anfang eines Gedichts von Friedrich Wilhelm Kaulisch (1827-81), der oft parodiert wird, so z.B. zusammen mit Heinrich Heines Gedicht »Wenn du eine Rose schaust«:
   Wenn du noch eine Tante hast,
   sag, ich laß sie grüßen.
Nach der alten Mutter Weise handeln: Mütter, die ihren Töchtern bei Liebesabenteuern nachspionieren, sind hiermit gemeint.
   Ein Berliner Gassenhauer hat den Titel: ›Mutter, der Mann mit dem Koks ist da‹. Er spielt auf die nicht spurlos gebliebene Begegnung der Tochter mit dem ›schwarzen Mann‹ an, die die Mutter sofort bemerkt.
   Im Westerwald sagt man beim Anblick, den das Wogen des blühenden Getreidefeldes hervorruft: ›die Mutter läuft durchs Korn‹; gemeint ist damit ein mythisches Wesen, das als Kornmutter oder Kornmuhme bezeichnet wird und auch als Kinderschreck dient.
   Mutterseelenallein ist eine verstärkende Bildung für ›ganz allein‹ und seit etwa 1809 (Campe) gebräuchlich. Im Frühneuhochdeutschen begegnet ›mutterallein‹, eine ähnliche Bildung wie ›mutternackt‹, und Gottfried Keller schreibt ›seelenallein‹. Über die Zusammensetzung ›Mutterseele‹ (ähnlich wie: Menschenseele) kommt es dann über ›mutterseligallein‹ zu dem heute noch gebräuchlichen Ausdruck
• W.D. HAND: A Classical Proverb-Pattern in Germany: X is the mother of Y, in: JEGP 36 (1937), Heft 2, S. 224-233; F. STRÖBELE: ›X ist die Mutter von Y‹, in: Proverbium 15 (1970), S. 120f.; L. RICHTER: Mutter, der Mann mit dem Koks ist da (Leipzig 1977); E. BADINTER: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute (Zürich 1981).}
Mutter, der Mann mit dem Koks ist da .... Kolorierte Lithographie, Neuruppiner Bilderbogen, Nr. 8306, um 1885. Aus: Theodor Kohlmann: Neuruppiner Bilderbogen, Katalog der Ausstellung im Museum für Deutsche Volkskunde Berlin vom 23. Aug. 1981 bis 31. Jan. 1982 (Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin, Bd. VII), Berlin 1981, S. 107, Abbildung 131.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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  • Mutter — Mutter: Die altgerm. Verwandtschaftsbezeichnung mhd., ahd. muoter, niederl. moeder, engl. mother, schwed. moder beruht mit Entsprechungen in den meisten anderen idg. Sprachen auf idg. *mātér »Mutter«, vgl. z. B. aind. mātár »Mutter«, griech.… …   Das Herkunftswörterbuch

  • Mutter — Sf std. (8. Jh.), mhd. muoter, ahd. muoter, as. mōdar Stammwort. Aus g. * mōder f. Mutter , auch in anord. móđir, ae. mōdor, afr. mōder (gt. dafür aiþei). Aus ig. * mātēr f. Mutter , auch in ai. mātár , toch.A mācar, toch.B mācer, gr. mḗtēr, l.… …   Etymologisches Wörterbuch der deutschen sprache

  • Mutter — [Basiswortschatz (Rating 1 1500)] Bsp.: • Ist diese Frau Ihre Mutter? • Helen und Nick sind mit ihrer Mutter im Supermarkt. • Frau Brown ist Peters Mutter …   Deutsch Wörterbuch

  • Mutter — Mut ter, v. i. [imp. & p. p. {Muttered}; p. pr. & vb. n. {Muttering}.] [Prob. of imitative origin; cf. L. muttire, mutire.] 1. To utter words indistinctly or with a low voice and lips partly closed; esp., to utter indistinct complaints or angry… …   The Collaborative International Dictionary of English

  • Mutter — Mut ter, v. t. To utter with imperfect articulations, or with a low voice; as, to mutter threats. Shak. [1913 Webster] …   The Collaborative International Dictionary of English

  • Mutter — Mut ter, n. Repressed or obscure utterance. [1913 Webster] …   The Collaborative International Dictionary of English

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